Unisiegel

Institut für Rehabilitationspädagogik Körperpädagogik

Fallportrait Kevin

Der achtjährige Kevin bietet ein Beispiel für Kommunikationsstrategien abseits vom allgemeinen Verständnis lautsprachlicher Kommunikation. Aufgrund seiner körperlich-motorischen Voraussetzungen ist es ihm kaum möglich, gesprochene Worte zu äußern. In Kevins Kommunikation spielt die Körpersprache, Blickkontakt, individuelle Mimik und Gestik sowie die Äußerung einzelner Laute eine große Rolle. Kevin erzählt sehr gerne und viel von dem, was ihn im Alltag beschäftigt. Dies tut er ausdauernd mit allen ihm zur Verfügung stehenden körpereigenen Kommunikationsmöglichkeiten. Im Laufe seiner Entwicklung hat sein engeres Umfeld schrittweise mitgelernt, seine kommunikativen Absichten in Form seiner Körpersprache sowie seiner individuellen Mimik und Gestik zu deuten und zu verstehen. Dafür ein Beispiel:

An einem herbstlichen Sonntagnachmittag sitzt Kevin mit seinen Eltern auf dem Sofa. Sie schauen sich gemeinsam ein Buch über die Tiere im Wald an. Plötzlich beginnt Kevin damit, aufgeregt auf eine Abbildung mit einem Kastanienbaum zu zeigen. Dabei wippt er hin und her, gibt ein forderndes „Nen“ von sich, während er seine Mutter genau fokussiert. „Möchtest du dir noch einmal die Seite über die Tiere, die in  Bäumen wohnen, ansehen?“ fragt sie ihn. „Nen!“ sagt Kevin aufgeregt, klappt das Buch zu und zeigt aus dem Fenster, in den Garten, in dem ein alter Kastanienbaum steht. Seine Hände ballt er zu Fäusten, mit denen er auf seine Oberschenkel klopft. „Möchtest du nach draußen gehen und eigene Kastanien sammeln?“ fragt seine Mutter nun. Mit dieser Vermutung liegt Kevins Mutter richtig. „Nen!“ ruft Kevin zustimmend, während er weiterhin mit den Fäusten auf seine Oberschenkel klopft. „Gut, ich hole deine Jacke und dann geht es nach draußen.“  

Allein durch seine Körpersprache, Mimik und Gestik kann Kevin jedoch nicht sämtliche Kommunikationsabsichten, sein Denken, Fühlen und seine Gedanken zum Ausdruck bringen. Es gibt für ihn nämlich noch viel mehr zu erzählen, als das, was er mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln deutlich machen kann. Aus diesem Grund nutzen Kevins Eltern eine Ja/Nein-Abfragestrategie, mit der sie Inhalte und Absichten erfragen können, die über den Ausdruck seiner Körpersprache hinausgehen. Auch das kann ein Beispiel zeigen:

Kevin ist mit seinem Vater beim Wocheneinkauf und darf sich in der Süßigkeiten-Abteilung etwas aussuchen. Leider sind die interessanten Regale für ihn zu hoch, um sich selber etwas nehmen zu können. Zum Glück weiß sein Vater, welche Süßigkeiten Kevin am liebsten isst. Die Ja/Nein-Abfragestrategie hilft nun, die engere Vorauswahl zu konkretisieren. Mit der einen Hand holt der Vater Gummibärchen, mit der anderen eine Tafel Schokolade aus dem Regal. „Kevin, was möchtest du dir lieber aussuchen?“ Er zeigt ihm die Tüte mit den Gummibärchen. Möchtest du Gummibärchen essen? Kevin schüttelt kaum merklich mit dem Kopf und sagt „Lala.“ Kevins Vater weiß aus vorherigen Situationen mit seinem Sohn, dass „Lala“ für Kevin Schokolade heißt und zeigt ihm diese. „Möchtest du die Schokolade haben?“ Lächelnd nickt Kevin leicht und sagt noch einmal „Lala.“

Obwohl die Ja/Nein-Fragen Kevins Möglichkeiten der Kommunikation um einiges erweitern, bleibt er von der Fähigkeit seiner Mitmenschen abhängig, seine genauen Wünsche und Absichten zu verstehen. Kevin so zu verstehen, braucht zuweilen viel Zeit und Ideen:

Um Kevins sechsten Geburtstag gebührend zu feiern, geht seine Familie in ein neues Café in der Nachbarschaft. Dort gibt es verschiedenste Kuchen, Torten und Getränkevariationen. „Zur Feier des Tages kannst du dir aussuchen, was du möchtest.“ teilt Kevins Vater ihm freudig mit. „Möchtest du ein Stück Torte essen?“ Kevin nickt aufgeregt mit dem Kopf und ruft „Lala!“ „Okay, ein Stück Schokoladentorte für das Geburtstagskind! Kommt sofort!“ Beim Bestellen merkt die Kellnerin an, dass sie heute drei verschiedene Schokoladentorten vor Ort haben und welche es denn sein soll. Daraufhin äußert Kevin wieder seinen Wunsch nach „Lala.“ Etwas verwirrt fragt die Kellnerin, ob ein Stück Zartbitter-Sahnetorte das richtige für Kevin wäre, doch dieser wiederholt nur weiter „Lala.“ „So kommen wir hier wohl nicht weiter, warum kommst du nicht mit zum Kühlschrank und suchst dir ein Stück Torte aus, junger Mann?!“ fragt die Kellnerin nun. Auf dem Weg zur Kuchenvitrine kommen die beiden an einem Tisch vorbei, auf dem eine dampfende Tasse heiße Schokolade mit Sahnehaube steht. Aufgeregt zeigt Kevin auf diese, begleitet von einem „Lala.“ „Ach, darf es auch noch eine heiße Schokolade sein?“ fragt die Kellnerin ihn direkt. Aufgeregt nickt Kevin mehrfach. „Na dann zeig mir mal noch, welches Stück der Torte es sein soll und dann bringe ich dir beides an den Tisch.“, erwidert die Kellnerin vergnügt, während sie eine heiße Schokolade mit Sahne zur Bestellung hinzufügt.

Mit der Einschulung vor drei Jahren hat sich nicht nur Kevins Tagesablauf, sondern auch sein Repertoire an Erzählinhalten verändert und erweitert. Durch die vielen neuen Kontakte, den Unterrichtsstoff und die zahlreichen Abenteuer des Schulalltags ergeben sich für ihn reichlich neue Themen, an denen er seine Eltern nur zu gerne teilhaben lassen möchte. Dieses Teilhaben an den Erzählungen ihres Sohnes gestaltet sich jedoch gar nicht so leicht, denn Kevins Eltern kennen die möglichen Inhalte des Unterrichtes und seiner Erzählungen nicht und die bisher angewandte Ja/Nein-Fragestrategie gestaltet sich dadurch weitaus schwieriger. Diese Schwierigkeiten führen dazu, dass Kevin sich mit einigen seiner Erzählinhalte unverstanden fühlt.

Doch nicht nur für Kevin sind die Kommunikationssituationen in der Schule eine Umstellung. Auch Kevins neue Bezugspersonen, seine Mitschüler:innen und Lehrer:innen, sind mit seiner Art zu kommunizieren noch wenig vertraut.

Kommunikationssituationen in der Schule

„Ebenso wichtig ist es, zu erwähnen, dass der Weg einer Lehrerin, sich derart akribisch in die Materie der Unterstützten Kommunikation einzuarbeiten, um einem Schüler seinen Erzählwunsch zu erfüllen, etwas Besonderes ist.“[1]

In Kevins Klasse gibt es nach dem Wochenende stets einen Morgenkreis, in dem jedes Kind die Chance bekommt, seinen Mitschüler:innen von seinem Wochenende zu berichten. Auch Kevin erzählt sehr gern von seinen Unternehmungen und Spielen. Um ihm dabei behilflich zu sein, schreiben seine Eltern das wichtigste über Kevins Erlebnisse vom Wochenende in sein Mitteilungsheft und die Klassenlehrerin Frau A. kann dazu durch die Ja/Nein Abfragestrategie ganz gezielte Nachfragen stellen und/oder seine Erlebnisse kommentieren. Kevin ist meist sehr stolz darauf, dass er das Erlebte mit seiner Klasse teilen kann und nutzt hauptsächlich seine individuellen Gesten und Mimik, um auf die Nachfragen  zu antworten oder auch um Freude und Unbehagen zu symbolisieren. Während er sich mitteilt, fokussiert er Frau A. mit seinen Augen, um keine Reaktion zu seinen Erzählungen zu verpassen.

Frau A. hat die Klasse in der dritten Jahrgangsstufe übernommen und musste alle Schüler:innen erst einmal neu kennenlernen. Sie erlebt Kevin als ein sehr mitteilsames Kind, welches einiges zu erzählen hat. Dabei ist ihr schnell aufgefallen, dass sie viele seiner Gesten nicht zuordnen kann und dass es seinen Mitschüler*innen ebenfalls so geht. Vieles von dem, was Kevin berichtet, geht aufgrund der Verständigungsschwierigkeiten verloren.

Um diesen Schwierigkeiten entgegenzuwirken, beschloss Frau A. zusammen mit Kevins Eltern, nach einer Möglichkeit zu suchen, Kevins Erzählpotential zu fördern. Auch diejenigen, die mit seiner individuellen Art zu kommunizieren noch nicht vertraut sind, sollen ihn verstehen können.

Im Zuge dieser Suche ist Frau A. auf die vielseitigen Einsatzmöglichkeiten der Unterstützten Kommunikation gestoßen und fing an, sich in die Materie einzuarbeiten. Sie wollte Kevins Erzählbedürfnis und seinem Recht, verstanden zu werden, gerecht werden. Damit ein ganzheitliches Unterstützungsangebot für Kevin gewährleistet werden kann, gab sie seinen Eltern den Rat, ihn bei der Beratungsstelle für Unterstützte Kommunikation vorzustellen, was sie alsbald auch getan haben.

Kommunikationsförderung in der Beratungsstelle für Unterstützte Kommunikation

„Es wurde von Frau K. erkannt, dass Kevin mehr als nur bedürfnisorientiert kommunizieren möchte. Er möchte Erzählen und wir möchten ihn verstehen.“[2]

Kevins Eltern haben, in Zusammenarbeit mit der Klassenlehrerin Frau A., einen Termin in der Beratungsstelle für Unterstützte Kommunikation vereinbart. Dort ist Frau G. Beratungslehrerin und ermöglicht erste Erprobungen mit zahlreichen Kommunikationshilfen und Methoden. Beim ersten Kennenlernen sind Kevin, seine Eltern, Klassenlehrerin Frau A., seine Logopädin Frau C. und Beratungslehrerin Frau G. anwesend. Die Anwesenden tauschten sich zu Kevins bereits gelingenden Kommunikationsstrategien aus. Sie besprachen weitere Schritte, wie neue Kommunikationsstrategien für z.B. das Ab-und Nachfragen, um Kevin besser verstehen zu können und ihm gute Impulse bei seinen Erzählungen zu geben.

Das oberste Ziel ist es, dass Kevin unabhängiger von den Frageideen der Kommunikationspartner:innen werden kann. Um sich diesem Ziel zu nähern, hat Frau G. es allen Anwesenden zur Aufgabe gemacht,  einerseits die Körpersprache von Kevin genauer zu erfassen, andererseits immer wieder darauf zu achten, worüber er kommunizieren möchte und wo im Austausch Missverständnisse oder ‚Einhak‘-Möglichkeiten entstehen, um diese verstärkt in das Nachfragen einbeziehen zu können.

Langfristig können elektronische Hilfsmittel, z.B. ein Sprachcomputer mit umfangreichem Wortschatz sowie Grammatikoptionen und Augensteuerung, die körpereignen Gesten ergänzen. Im Zuge der Beratung wurde von allen Anwesenden beschlossen, dass ein Termin im Sozialpädiatrischen Zentrum gefunden werden muss, um ein solches Hilfsmittel zu erproben und dann auch bei der Krankenkasse zu beantragen. Eine solche elektronische Kommunikationshilfe ist perspektivisch angedacht. Den Weg in die Kommunikation mit einem komplexen Sprachcomputer sollen Kevin und seine Bezugspersonen schrittweise gehen, denn sowohl für Kevin als auch für alle Beteiligten ist das Erlenen dieser Kommunikationsweise wie das Lernen einer neuen Sprache.

Um allen Beteiligten die Unterstützung von Kevins Kommunikationsförderung zu erleichtern, erstellte Frau G. einen detaillierten Plan mit Aufgaben für Kevin und sein Umfeld. Dieser Plan umfasst sowohl die Förderung von Kevins körpereigenen Kommunikationsmitteln, als auch  den ersten Umgang mit elektronischen Kommunikationsmitteln bis hin zu einer komplexen Kommunikationshilfe. Die Hilfestellungen und Ziele wurden bewusst so ausgewählt und formuliert, dass sie in alltäglichen Situationen - beispielsweise Zuhause am Esstisch oder auch in der Schule - gut zu absolvieren sind. Die benötigten Hilfsmittel für einen niedrigschwelligen Einstieg konnten Frau A. sowie Logopädin Frau C. durch den Kauf bzw. durch die Ausleihe[3] von einfachen sowie komplexeren Kommunikations- und Adaptionshilfen realisieren. Alle Handlungsabläufe wurden zuvor bereits im Rahmen der Beratung bekannt gemacht sowie die benötigten Hilfsmittel erprobt.

Förderung der körpereigenen Kommunikationsformen[4]

Besonders wichtig für die Kommunikationsanbahnung durch die Förderung von Kevins körpereigenen Kommunikationsformen ist der interdisziplinäre Austausch zwischen Kevins Bezugspersonen im häuslichen, schulischen und therapeutischen Umfeld.

Um Kevin nicht unnötig zu überfordern und ein ganzheitliches Lernen der neuen Kommunikationshilfsmittel zu gewährleisten, sollte zu viel neuer Input auf einmal vermieden werden. Es geht bei der Unterstützten Kommunikation nicht darum, die gewohnten Kommunikationsformen zu verwerfen, sondern vielmehr darum, diese aufzugreifen und daran anzuknüpfen. Im Fall von Kevin sind es seine ganz individuellen mimischen Ausdrucksweisen, seine Gesten und sein fokussierter Blickkontakt. Inhalt der Hilfestellung und Förderung ist es, Situationen kommunikativ so zu gestalten, dass er diese wiederholt zeigen kann. Seine Kommunikation soll überinterpretiert und dadurch bestärkt werden. Zusätzlich zur Kommunikation mit Kevins bereits vorhandenen Möglichkeiten soll sein Dialogverhalten gefordert und gefördert werden. Ein gezieltes „Ich bin dran – du bist dran“ im Dialog trägt maßgeblich dazu bei, dass in zukünftigen Situationen die Gesprächsregeln besser eingehalten werden können.

Elektronische Kommunikationshilfen[5]

Der Power Link

Etwas bewirken zu können, zu steuern oder eigenständig auszulösen, kann ein neues Gefühl, nämlich das Gefühl der der Selbstwirksamkeit ermöglichen. Gerade wenn man anfängt, mit dem Ursache-Wirkungsprinzip zu spielen und dieses besser kennenzulernen, eröffnen sich ungeahnte Möglichkeiten der Partizipation.

Um die Erfahrung des  Prinzips von Ursache-Wirkung zu erleben und zu verinnerlichen, erprobte die Beratungslehrerin Frau G. mit Kevin, seinen Eltern und Frau A. den Einsatz eines Power Link[6]. Im  Spiel mit dem Power Link kann Kevin seine Aktivitäten eigenständig steuern, wie es ihm Spaß macht. Durch das Drücken der Tasten zum Auslösen der Geräte lernt er zusätzlich noch Fertigkeiten für die perspektivische Nutzung komplexerer Kommunikationshilfen. Mit Hilfe eines Power Links erfährt Kevin ein neues Gefühl von Partizipation in der Schule wie im lebensweltlichen Alltag. Nun kann er bei Schulfesten die Popcornmaschine bedienen oder seiner Mutter beim Kuchenbacken helfen. Sobald der Mixer an den Power Link und den Taster angeschlossen ist, kann Kevin ihn durch einen einfachen Tastendruck betätigen und alle Zutaten miteinander vermixen. Das bringt nicht nur eine Menge Spaß und leckeren Teig, sondern auch ein ganz besonderes Gefühl, mittendrin statt nur dabei zu sein.

Im Folgenden einige Illustrationen von Anwendungsmöglichkeiten des Power Links:

  1. Als Frau G. das Radio und die Taste an den Power Link anschließt, kann Kevin es kaum mehr abwarten und fokussiert diese erwartungsvoll. Er weiß ganz genau, was passieren wird, wenn er die gelbe runde Taste drückt. Als Frau G. diese dann endlich vor ihn legt und ihm das Startsignal gibt, verpasst er der Taste einen gezielten Druck. Eine Sekunde später ertönt ein cooles, poppiges Lied aus dem Radio. Freudig genießt Kevin die Musik und lächelt seine Mutter an. Plötzlich verstummt das Radio wieder. Und jetzt? Ohne lange zu zögern drückt Kevin die Taste erneut, bis die Musik wieder ertönt. „Du hast recht, Kevin, das Lied war noch gar nicht vorbei.“, sagt Frau G. daraufhin sichtlich zufrieden, weil Kevin das Prinzip sofort verstanden hat
  2. Für den Weihnachtsbasar der Schule soll das ganze Gebäude festlich geschmückt werden. Alle Klassen leisten dazu ihren Beitrag. Auch die Klasse von Frau A. hat sich etwas Großes vorgenommen – sie möchten eine weihnachtliche Girlande für den Weihnachtsbaum basteln. Für die Girlande hat Frau A. buntes Papier, Scheren,  Klebestifte sowie einen Aktenvernichter besorgt. „Mit Hilfe des Aktenvernichters und dem Power Link kann Kevin uns super schnell ganz viele gleichmäßige Papierstreifen für unsere Girlande vorbereiten.“ erklärt Frau A. der Klasse. Gesagt, getan. Kaum ist der Aktenvernichter an den Power Link auf Kevins Tisch angeschlossen, kann es auch schon losgehen. Freudig drückt Kevin auf den runden Taster und der Aktenvernichter schneidet die bunten Papiere in Streifen. „Cooooool, darf ich auch mal?“ fragt eine Mitschülerin ihn. Kevin schaut sie lächelnd an und schiebt den Taster des Power Links in ihre Richtung. „Danke, das nenne ich Teamwork.“
  3. Als Kevin nach einem herbstlichen Spaziergang mit seinen Eltern wieder nach Hause kommt, kann er es kaum erwarten, eine heiße Schokolade „Lala“ zu trinken. In der freudigen Aufregung vergisst er jedoch, im Hausflur zu warten, bis die schlammigen Reifen seines Rollstuhls von seinem Vater abgewischt wurden. Als er den Kopf dreht, sieht er die Schlieren aus Dreck, die er auf den Fliesen hinterlassen hat. „Na toll, und wer putzt das Unglück nun wieder weg?“ fragt Kevins Vater seinen Sohn. Dieser zeigt prompt auf den Staubsauger, der in der Ecke steht. „Ahh, gute Idee, wer Dreck macht, kann diesen auch selber wieder beseitigen.“ erwidert Kevins Vater und läuft ins Wohnzimmer, um den Power Link zu holen, um den Staubsauger anzuschließen. Als dies geschehen ist, gibt er Kevin den runden Taster und richtet den Sauger auf den kleinen Sandhaufen auf dem Boden. „Auf 3. 1…,2…,3!“ Als sein Signal ertönt, drückt Kevin den Taster, um den Staubsauger einzuschalten. Ein lautes Brummen ertönt und Kevins Vater kann den Schmutz mit Kevins Hilfe einfach weg saugen. Kurze Zeit später ist der Boden wieder sauber. „Na gut, Dreck beseitigt! Dann haben wir uns jetzt den Kakao verdient, findest du nicht, Kevin?“

Die sprechende Taste

Ähnlich wie der Power Link ist auch die sprechende Taste eine bewährte Möglichkeit zur Kommunikationsanbahnung im Sinne der Unterstützten Kommunikation. Auf einer Taste kann eine beliebige Aussage von bis zu zwei Minuten Länge aufgezeichnet und gespeichert werden. Durch einen gezielten Druck der Taste kann das Aufgezeichnete ganz einfach wieder abgespielt werden. Nun ist es dem/der unterstützt Kommunizierenden mithilfe der sprechenden Taste im Morgenkreis möglich, von seinem*ihrem Wochenende zu erzählen oder beispielsweise mit einem simplen „Du bist jetzt dran!“ auf der Taste in die Rolle der*des Klassenmoderator:in zu schlüpfen. Ebenso gut kann die sprechende Taste auch im Unterrichtsgeschehen[7] selbst für mehr Teilhabe sorgen. Wie genau Kevins Partizipation am Interaktionsgeschehen durch die sprechende Taste verbessert werden kann, sei nachfolgend an einigen Beispielen illustriert:

  1. Die Klassenlehrerin Frau A. steht vor ihrer Klasse und hält ein Buch empor. „Wer kennt die Geschichte von der kleinen Raupe Nimmersatt?!“ „Ich! Ich!“ ertönt es von allen Seiten. „Na gut.“, sagt Frau A. geheimnisvoll, „wenn ihr das Buch alle schon kennt, dann wollen wir mal sehen, ob ihr auch mitsprechen könnt.“ Sie beginnt zu lesen. „[…] Am Montag fraß sie sich durch einen Apfel. Na, wer weiß, wie es jetzt weiter geht? Kevin, hast du eine Idee?“ Kevin wirkt ganz aufgeregt. Noch während des Frühstücks heute Morgen haben er und seine Mutter die grüne Taste mit dem ganz bestimmten Satz besprochen. Durch einen Druck der Taste  gibt er sein Wissen preis und der allseits bekannte Satz „Aber satt war sie noch immer nicht.“ schallt durch das Klassenzimmer.
  2. Im Sportunterricht finden die sprechenden Tasten ebenfalls Verwendung. Wenn die Klasse in der letzten Woche besonders gut mitgearbeitet hat, wird der Sportunterricht zu einer Spielstunde, in der die Schüler*innen demokratisch entscheiden können, was sie spielen wollen. Meistens fällt die Wahl ganz eindeutig auf das Spiel „Feuer, Wasser, Sandsturm.“ Durch den Einsatz der sprechenden Tasten kann Kevin nun auch ganz aktiv als Spielleiter am Geschehen teilnehmen. Die rote Taste wurde im Vorfeld mit dem Wort „Feuer“ besprochen, die blaue mit dem Wort „Wasser“ und auf die gelbe Taste hat ein Mitschüler von Kevin das Wort „Sandsturm“ aufgenommen. Nach Belieben kann nun auch Kevin seine Klassenkamerad*innen durch die Sporthalle jagen, indem er abwechselnd durch einen einfachen Tastendruck eines der drei Signalwörter stellt.
  3. Nachdem die Klasse von Frau A. sich im Deutschunterricht mit dem Buch „der Regenbogenfisch“ beschäftigt hat, gibt es in den Pausen kaum ein anderes Spielthema. Die Geschichte rund um den stolzen Fisch mit den Glitzerschuppen hat die Schüler*innen sehr beeindruckt. “Was haltet ihr davon, wenn wir als nächstes Projekt alle zusammen ein Theaterstück auf die Beine stellen und die Geschichte vom Regenbogenfisch nachspielen?“ fragt Frau A. ihre Klasse nach einer besonders spaßigen Hofpause. Die Schüler*innen sind begeistert und es wird abgemacht, dass jede*r, die*der möchte, eine Rolle mit Text bekommen soll. Damit keine Streitereien entstehen, schreibt Frau A. mit Hilfe ihrer Schüler*innen alle potentiellen Rollen auf kleine Zettel und lässt jedes Kind seine Rolle ziehen. Kevin hat die Rolle des alten, weisen Tintenfisches gezogen und freut sich sehr, denn diese Rolle ist sehr wichtig und spannend. Als er nach der Schule zu Hause ankommt, kann er es kaum erwarten, seiner Mutter zu berichten, was für eine tolle Rolle er im Theaterstück hat. Kaum hat sie das Wohnzimmer betreten um ihn zu begrüßen, streckt er ihr seine Hand mit der gelben sprechenden Taste entgegen. „Was möchtest du mir erzählen?“ fragt sie ihn lächelnd. Kevin drückt rasch die Taste und die Stimme von Frau A. ertönt: „Guten Tag Frau J., heute haben wir als Klasse beschlossen, dass wir den Regenbogenfisch als Theaterstück nachspielen wollen. Kevin hat die Rolle des Tintenfisches gezogen. Die heutige Hausaufgabe ist es, den Text für seine Rolle in dem Buch zu suchen und zu lernen. Liebe Grüße!“ „Ach, wie wunderbar, Kevin! Das ist ja toll. Wollen wir erst Mittagessen oder erst deinen Text…“ doch weiter kommt seine Mutter gar nicht, denn Kevin  nickt schon aufgeregt und zeigt eifrig auf seinen Schulranzen.

Die elektronische Kommunikationshilfe mit Symboloberfläche und Sprachausgabe

Durch die Verwendung der sprechenden Tasten und des Power Links ist es Kevin nun besser möglich, an vielen Interaktionsgeschehnissen aktiv teilhaben zu können und diese weitestgehend mitzubestimmen. Trotzdem wird in der Kommunikation mit Kevin schnell klar, dass er am liebsten noch viele Aussagen mehr zur Verfügung haben möchte. Daher sollte für ihn so schnell wie möglich zusätzlich eine Kommunikationshilfe, mit der Möglichkeit mehr Wortschatz abzuspeichern, eingeführt werden. Dies konnte durch ein Leihgerät seiner Logopädin auch realisiert werden. Durch die Verwendung eines solchen Gerätes wird Kevin zusätzlich spielend leicht an die Geräte mit dynamischen Oberflächen herangeführt, die er in Zukunft nutzen könnte.

Während der Erprobung mit der elektronischen Kommunikationshilfe mit Symboloberfläche und Sprachausgabe war besonders schön zu beobachten, wie motiviert und ausdauernd Kevin erzählen kann und möchte. Der Inhalt, den Kevin damit erzählen kann, ist komplett auf ihn und sein Leben zugeschnitten. Dies ist möglich, da die Kommunikationshilfe mit thematisch relevanten und wiederkehrenden Aussagen aus seinem Alltag besprochen wird. Diese Aussagen oder Begrifflichkeiten werden durch Symbole, die er im Vorfeld mit realen Gegenständen zu verknüpfen gelernt hat, auf der Vorderseite der Kommunikationshilfe visualisiert. Die Symbole fungieren als Tasten, die gedrückt werden müssen, um eine Aussage zu erzeugen. Auf dem Gerät, mit dem Kevin übt, gibt es jeweils fünf Ebenen, zwischen denen man wählen und somit  thematisch voneinander abgrenzen kann. Auf jeder dieser Ebenen gibt es insgesamt 25 Tasten, wovon die ersten fünf jeweils für Begriffe aus Kevins Kernvokabular reserviert sind. Durch einen Tastendruck können auf jede einzelne Taste bis zu 18 Sekunden lange Aussagen gesprochen werden, welche sich durch einen erneuten Druck der Taste wiedergeben lassen. Da die Fülle an neuen Teilhabemöglichkeiten im Umgang mit der Kommunikationshilfe noch ziemlich komplex und überfordernd wirken kann, wurden für Kevin zu Beginn nur einzelne Tasten belegt und gezielt Lücken gelassen. Durch das robuste Äußere der Kommunikationshilfe ist es Kevin möglich, diese auf jedes seiner Abenteuer mitzunehmen um sich jederzeit in kommunikative Situationen einbringen zu können. Für Kevin gibt es durch die Kommunikationshilfe völlig neue Möglichkeiten, sein umfangreiches Kommunikationspotential unter Beweis zu stellen und auch in unbekannten Kommunikationssituationen gehört und verstanden zu werden.

Wie Kevins Teilhabe durch solch eine Kommunikationshilfe mit Sprachausgabe im Alltag verbessert werden kann, sei im Folgenden anhand eines Anwendungsbeispiels illustriert.

Es ist der letzte Schultag vor den Herbstferien und Frau A. möchte mit ihrer Klasse ein gemeinsames Frühstück vorbereiten. Als Highlight haben sich die Schüler*innen überlegt, dass sie gerne Pfannkuchen backen würden. Gemeinsam haben sie im Internet nach einem Rezept für den leckersten Pfannkuchenteig gesucht und sind schließlich auch fündig geworden. Im nächsten Schritt wurden Symbole für die einzelnen Arbeitsschritte und Zutaten ausgewählt und mit Hilfe der Software von Kevins Kommunikationshilfe ein Symbol-Arbeitsplan erstellt und ausgedruckt, welcher in die Kommunikationshilfe gelegt wird. Nachfolgend werden die einzelnen Tasten passend zu den Symbolen in der Reihenfolge des Rezepts gemeinschaftlich besprochen. Versehentliche Versprecher sind dabei kein Problem, die Aussagen auf den einzelnen Tasten können beliebig oft überspielt, gelöscht oder geändert werden. „Wir sind fertig, Frau A., wir können mit dem Teig starten.“ „Okay“ sagt Frau A. daraufhin, „hier auf dem Tisch stehen schon alle Zutaten und eine große Schüssel für den Teig. Was brauchen wir denn zuerst?“ Erwartungsvoll richten sich alle Augen auf Kevin. Dieser drückt auf eine Taste, welche mit einem Eier-Symbol versehen ist. „Zuerst kommen sechs Eier in die Schüssel. Vorsicht beim Aufschlagen!“ gibt das Kommunikationsgerät wieder. „Wunderbar, vielen Dank, Kevin. Als nächstes nutzen wir dann den Mixer, oder?“ fragt Frau A. lächelnd. Kevin schüttelt aufgeregt den Kopf und drückt hastig eine weitere Taste, auf der eine Milchtüte zu sehen ist. „Als nächsten Schritt kommen 600 Milliliter Milch in die Schüssel.“ Als die Aussage vorbei ist, strahlt Kevin seine Klassenlehrerin an. Das ist ja gerade noch einmal gutgegangen.

Ausblick

Die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Kevins Eltern, seiner Klassenlehrerin Frau A., Frau G. von der Beratungsstelle für Unterstützte Kommunikation und seiner Logopädin Frau C. war erfolgreich. Durch den Austausch und die Bemühungen, ihm neue Impulse zum Kommunizieren zu geben und seine Kommunikationsabsichten genau zu beobachten, ließ sich eine geeignete Kommunikationshilfe für Kevin finden und ausprobieren.

Inzwischen hat auch die Erprobung am SPZ stattgefunden. Aufgrund der großen Motivation, mit der Kevin mittels der komplexen Kommunikationshilfe kommuniziert, sein großes Kommunikationspotential sowie seine vielfältigen Kommunikationsabsichten wurde die komplexe Kommunikationshilfe beantragt und auch bewilligt.

 

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[1] Zitat Beratungslehrerin Frau G. aus einer Besprechung am 02.10.2020

[2] Zitat Frau G. aus der Besprechung am 2.12.2020

[3] Frau A. hat drei sprechende Tasten für den Unterricht gekauft und Logopädin Frau C. hat Kevin einen Power Link sowie eine elektronische Kommunikationshilfe geliehen.

[4] Aus „Aufgaben für das Umfeld im Rahmen der Kommunikationsförderung“ der Beratung am 17.01.2020 von Frau G.

[5] Ebd.

[6] An den Power Link können elektrische Geräte angeschlossen und mit einer Taste verbunden werden. Durch das Auslösen dieser Taste kann das elektrische Gerät dann eingeschaltet und genutzt werden. Den Power Link gibt es erweiterbar mit Zeitschaltuhr.

[7] Frau K. hat drei sprechende Tasten gekauft, damit sich Kevin im Unterricht noch besser einbringen kann.