Institut für Rehabilitationspädagogik Körperpädagogik
Das Kneten von wunderbaren Fantasiewesen ist Marias große Leidenschaft. Immer, wenn es darum geht, neue Welten aus Knete zu erschaffen, ist sie voller Elan mit dabei und spannt sogar ihre Eltern gerne als Arbeits- und Spielpartner:innen mit ein. Wie die meisten 8-jährigen hat Maria eine große Fantasie und drückt sich gerne künstlerisch im Spiel aus. Um Wünsche und Bedürfnisse zu äußern, nutzt Maria hauptsächlich individuelle Gesten und ihre Mimik. Besonders häufig beansprucht sie Zeigegesten, um auf einen spezifischen Wunsch aufmerksam zu machen. Ergänzend zu ihren Gesten verwendet Maria auch einige Wortäußerungen wie zum Beispiel „Papa/Mama“, „Danke“, „Ja“ und „Nein.“ In kommunikativen Situationen ist es für Maria jedoch oft nicht einfach, durch Gesten, Mimik und einzelne Worte ihren Gesprächspartner*innen zu verstehen zu geben, was sie sich gerade wünscht.
Um Maria dabei zu helfen, präzise Wünsche äußern zu können, haben ihre Eltern im Laufe ihrer Entwicklung damit begonnen, eine partnerbasierte Kommunikationsstrategie in Form einer Ja/Nein-Abfragestrategie anzuwenden. Diese Methode soll Maria dazu befähigen, aus verschiedenen Angeboten genau das in dem Moment für sie passende auswählen zu können.
Wie diese Abfragemethode im Alltag aussehen kann, sei im folgenden Beispiel illustriert:
Maria und ihre Mutter sitzen im Kinderzimmer auf dem Fußboden und kneten einen bunten Wald. Um sie herum stehen dutzende Töpfe mit Knetgummi. Es sind nicht nur die gewöhnlichen Farben wie Blau, Gelb und Rot vertreten. Maria hat in ihrer Sammlung auch Farben wie Giftgrün oder Neonpink. Sie ist gerade dabei, einen besonders großen Baum zu kneten, als sie aufschaut und ihre Mutter antippt. „Was ist denn los?“ fragt diese. Maria zeigt an ihrer Mutter vorbei auf eine Reihe Töpfchen mit Knetmasse. „Brauchst du eine neue Farbe, Maria?“ Nickend zeigt Maria erneut auf die Töpfe. Ihre Mutter greift hinter sich und holt einen Topf mit dunkelblauem Deckel empor. „Möchtest du dunkelblau haben?“ Maria schüttelt den Kopf und zeigt erneut auf die verbleibenden Töpfe. „Möchtest du etwa einen schwarzen Baum kneten?“ fragt ihre Mutter und hält einen Topf mit schwarzem Deckel empor. Wieder schüttelt Maria energisch den Kopf und zeigt nochmals in Richtung der verbleibenden Töpfe. „Hmmmm, wie sieht es mit Türkis aus?“ fragt Marias Mutter und streckt das Töpfchen mit der türkisfarbenen Knete in Marias Richtung. Diese nimmt nun nickend den Topf aus der Hand ihrer Mutter, sagt „Ja, Danke, ja!“ und beginnt, die türkisfarbene Knete auszurollen.
Durch die Anwendung der Abfragestrategie kann Maria also zwischen verschiedenen Angeboten wählen. Obwohl sie selbst kein Wort oder keine individuelle Geste für abstrakte Dinge wie z.B. Farben nutzt, ist es ihr möglich, sich eine solche auszusuchen und dies auch zu kommunizieren. Dieses Ja/Nein Konzept funktioniert zwischen Maria und ihren Eltern sicher. Es sollte jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass Maria nur zwischen denjenigen Dingen wählen kann, die ihr durch ihre Kommunikationspartner:innen angeboten werden. Sobald Maria ein bestimmtes Angebot vermisst, ist es für sie sehr schwer, sich verständlich zu machen und sie ist auf die Sensibilität ihres Umfeldes angewiesen.
Maria und ihre Eltern wollen heute auf dem Jahrmarkt zu Mittag essen. Auf die Frage, was Maria denn essen wolle, zieht sie ihre Eltern geradewegs zum Waffelstand. „Oh, eine Waffel möchtest du also essen? Etwa mit Zimt und Zucker?“ fragt Marias Vater und schaut seine Tochter an. Diese schüttelt langsam den Kopf. „Hmmm, möchtest du heiße Kirschen auf deine Waffel haben?“ Wieder schüttelt Maria den Kopf und zeigt erneut auf das Waffelemblem des Standes. „Sahne! Möchtest du eine Waffel mit Sahne essen?“ Zum energischen Kopfschütteln kommt ein Schnaufen dazu. Immer wieder zeigt Maria auf das Emblem. „Wir nehmen eine Waffel mit Nuss-Nougatcreme, die magst du doch so gerne“, schreitet Marias Mutter ein und nickt dem Waffelverkäufer zu. „Alles klar, eine Waffel mit Nuss-Nougat-Creme für die kleine Dame.“ Als Maria das hört, beginnt sie mit dem Fuß auf dem Boden zu stampfen und ein „Nein!“ ertönt. „Möchtest du denn überhaupt etwas auf deine Waffel haben, Maria?“ fragt ihr Vater geistesgegenwärtig und schaut sich das Emblem des Waffelstandes an. „Schau, auf dem Emblem ist auch nur eine Waffel zu sehen, ganz ohne Topping. Ist es das, was du möchtest?“ Maria hält in ihrer Bewegung inne und beginnt energisch zu nicken. „Ja!“ sagt sie freudig und lässt sich kurze Zeit später ihre Waffel schmecken.
In der Regel können Marias Eltern ihre Kommunikationsabsichten erkennen und aus dem Kontext über sensibles Nachfragen erschließen. Allerdings müssen sie die richtige Idee haben, um passende Fragen stellen zu können. Maria ist vom Einfühlungsvermögen und den Kommunikationsfähigkeiten ihrer Kommunikationspartner:innen abhängig. Um ihren Bedürfnissen gerecht zu werden, ist es also wichtig, dass ihre Kommunikationspartner:innen sie gut kennen und wissen, welche Dinge sie generell mag oder nicht mag. Sollte dies nicht der Fall sein, ist eine zufriedenstellende Kommunikation für Maria erschwert. An ihre Grenzen kommt die partnerbasierte Kommunikationsstrategie zudem bei komplexeren Kommunikationsthemen.
Die Suche nach Kommunikationspartner:innen in der Kita
Als Maria in die Kita kam, war die Aufregung groß. Besonders hatte sie sich auf die anderen Kinder gefreut. Mit Gleichaltrigen zu kneten und Wunderwelten zu erfinden macht vermutlich noch viel mehr Spaß, als mit den Eltern. Gezielt und kontaktfreudig ist Maria auf die anderen Kinder zugegangen, um diese zum Spiel aufzufordern. Auch Kinder aus der Kitagruppe haben Kontakt zu Maria aufgenommen, wie das folgende Beispiel zeigt:
Als Maria das erste Mal das Spielzimmer ihrer Kita sieht, hätte die Freude kaum größer sein können. Es gibt eine große Knet-Ecke mit einem Regal voller Knete in allen Farben des Regenbogens. Natürlich müssen diese gleich ausprobiert werden. In der Knet-Ecke sitzt schon ein Junge und rollt eine dicke Wurst aus Knete zwischen seinen Handflächen. Maria setzt sich neben den Jungen und betrachtet die Wurst aus Knete aufmerksam. „Hallo, wie heißt du?“ fragt der Junge neugierig, während er Maria von oben bis unten mustert. Diese lächelt ihn an und nickt. „Hast du etwa keinen Namen?“ fragt der Junge erneut. Maria zeigt auf ihren Kopf und sagt „Ja.“ „Hmm. Möchtest du mir helfen, eine Schlange zu kneten?“ Maria lächelt breit und nickt mit dem Kopf „Ja, ja!“ sagt sie und nimmt sich einen Topf mit orangefarbener Knete aus dem Regal.
Es ist schwer für die anderen Kinder zu verstehen, dass Marias Art der Kommunikation sich von der ihren unterscheidet. Zwar war zu beobachten, dass Maria sehr wohl die gleichen Intentionen verfolgte wie die anderen Kinder - nämlich die Annäherung und das Spiel miteinander - jedoch wurden diese Absichten selten verstanden und angenommen. Da Marias Art der Kommunikation völlig fremd für die anderen Kinder ihrer Kita-Gruppe war und sie verunsicherte, haben sie teilweise das Spiel mit ihr gemieden.
An vielen Themen, die in den Lebenswelten der Kita-Kinder von Bedeutung sind, konnte Maria nicht oder nur bedingt teilhaben. Um überhaupt partizipieren zu können, musste sie einen anderen Zugang als die anderen Kinder nutzen. Dies sei im Folgenden am Beispiel von Klatschspielen mit Gesang illustriert. Maria kann nicht mitsingen, jedoch versucht sie dies durch rhythmische Bewegungen auszugleichen. Die anderen Kinder können diese Bemühungen kaum begreifen und einordnen. So kommt es zu Unsicherheiten, Ablehnungen und Ausgrenzungen:
Besonders beliebt sind in der Kitagruppe, in die Maria seit einiger Zeit geht, Klatschspiele mit Gesang. Hierbei geht es darum, in einem bestimmten Rhythmus in wiederholter Abfolge in die Hände zu klatschen. Als zusätzliche Herausforderung wird dabei ein Lied im geklatschten Rhythmus gesungen. Je mehr Kinder dabei mitmachen, desto lauter und rhythmischer wird das Spiel. Besonders der heitere Gesang ist der Gruppe sehr wichtig und es wird viel Wert auf die Aussprache und den richtigen Text gelegt. Auch Maria spielt das Klatschspiel sehr gerne und gibt sich dabei stets große Mühe, nicht aus dem Takt zu kommen. Anstelle des Gesangs wippt Maria mit ihrem ganzen Körper hin und her oder dreht sich im Kreis. Da Maria so viel Spaß an dem Spiel hat, möchte sie es so oft wie möglich spielen und je mehr Kinder dabei mitmachen, desto besser. Leider kommt es oft vor, dass die anderen Kinder nicht mit Maria spielen wollen, da sie ihrer Meinung nach, das Spielprinzip nicht verstanden hat. „Du musst mitsingen, Maria! So macht das keinen Spaß.“ Oder „Du schummelst. Warum kannst du nicht mitsingen? Ich möchte lieber mit jemandem spielen, der die Regeln verstanden hat.“, bekommt sie immer wieder zu hören.
Im Laufe der Zeit kommen die anderen Kinder immer seltener auf Maria zu, um sie zum Spiel aufzufordern und auch Maria traut sich nur noch selten. Sie hat nun Angst, nicht verstanden und dadurch ausgegrenzt zu werden. Die erlebte Ablehnung stimmt Maria oft sehr traurig und sie spielt immer häufiger ganz allein, während die anderen Kinder sich in festen Spielgruppen gefunden haben.
Auch im Weitererzählen von Geschichten oder Erlebnissen wurde Maria oft übersprungen oder einfach vergessen. Die anderen Kinder gingen davon aus, dass sie nichts zu erzählen hätte. „Sonst würde sie doch einfach etwas sagen.“ Maria hatte jedoch auch den Wunsch, situationsunabhängig etwas erzählen zu können und dabei verstanden zu werden, so wie die anderen Kinder auch.
Erzählen durch Piktogramme in der Schule
Mit ihrer Einschulung vor zwei Jahren hat sich für Maria vieles geändert. Ihre Klassenkamerad:innen haben Maria von Anfang an integriert und sie hat die Spiel- und Arbeitspartner:innen gefunden, die sie sich in der Kita gewünscht hatte. Ihre Klassenlehrerin Frau V. hat schnell erkannt, dass Maria ein großes Mitteilungsbedürfnis hat, dies jedoch aufgrund von fehlenden Kommunikationshilfen nicht ausleben kann.
Aus diesem Grund bekam Maria eine Mappe mit vielen verschiedenen Piktogrammkärtchen, also gezeichneten Symbolen, zur Verfügung gestellt. Die Symbolmappe enthält Piktogramme zu den verschiedensten Themen wie z.B. Freizeitaktivitäten oder Farben. Mit Hilfe von Klettpunkten lassen sich die Symbolkarten ganz einfach aus der Mappe herausnehmen und an Filzteppiche oder ähnliches kletten. Der Einsatz der Piktogramme im Schulalltag kann folgendermaßen illustriert werden:
Jeden Montag gibt es in Marias Klasse einen Morgenkreis, in dem jede:r, die/der möchte den Mitschüler:innen vom Wochenende berichten darf. Die meisten Kinder nehmen dieses Angebot gerne wahr und es ist ein fröhlicher Austausch von Erfahrungen und Erlebnissen. Auch Maria möchte heute von ihrem Wochenende berichten, denn am Samstag war sie mit ihren Eltern im örtlichen Freibad und hat dort ein großes Eis aus der Waffel gegessen. Eifrig sucht sie die passenden Symbole in ihrem Hefter und löst sie ab. Als nächsten Schritt meldet sie sich ruhig und wartet darauf, dass sie den Erzählstein, der ringsum geht, von ihrem Sitznachbarn überreicht bekommt. „Hier, bitteschön Maria, was hast du am Wochenende erlebt?“ fragt ihr Sitznachbar interessiert, als er ihr den Erzählstein übergibt. Ohne zu zögern hält Maria ein Piktogramm von einem Schwimmbecken empor. Das Piktogramm zeigt ebenfalls einen Sprungturm und am Himmel strahlt die Sonne. „Ahhhh, du warst schwimmen! Cool! Es war ja auch tolles Wetter.“ ruft eine von Marias Klassenkameradinnen vergnügt. „Bist du auch vom Sprungturm ins Wasser gesprungen, Maria?“ fragt Frau V. daraufhin. „Nee“, sagt Maria und schüttelt energisch den Kopf, während sie ein zweites Piktogramm in die Runde hält. Auf diesem ist eine Eiswaffel mit zwei Kugeln zu sehen. „Mhhhhh, lecker Eis!“ schwärmt Marias Sitznachbar und diese reibt sich zufrieden den Bauch während sie den Erzählstein an das nächste Kind weiter gibt.
Mit Hilfe der Piktogramme und der Offenheit ihres Umfeldes kann Maria nun, wie ihre Klassenkamerad:innen auch, von Erlebnissen berichten und damit beginnen, situationsunabhängiger zu erzählen. Sie kann Geschichten konstruieren und Gegenstände thematisieren und muss dabei nicht zwingend im Unmittelbaren verhaftet bleiben. Aber auch hier gilt: Maria kann nur mit den Symbolen arbeiten, die ihr im Rahmen der Symbolmappe zur Verfügung gestellt wurden. Je abstrakter Marias Kommunikations-absichten werden, desto schwieriger wird es für sie, passende Piktogramme zu finden. Zudem müssen Marias Gesprächspartner:innen anhand der Symbolbilder versuchen, die Situation, von der Maria erzählen möchte, so genau wie möglich zu konstruieren. Bei diesen Versuchen kann es schnell passieren, dass Missverständnisse auf der einen, und Frustration auf der anderen Seite entstehen.
Auf den ersten Schultag nach den Herbstferien hat sich Maria besonders gefreut. Endlich kann sie ihre Klasse wiedersehen. Es gibt ja auch so viel zu berichten, denn Maria hat in den Herbstferien einiges erlebt. Die Aufregung und das Mitteilungsbedürfnis sind nicht nur bei Maria, sondern auch bei den meisten ihrer Klassenkamerad*innen riesig und im Klassenzimmer herrscht eine sehr laute Grundstimmung vor. „Guten Morgen, ihr Lieben, wie ich schon auf dem Flur gehört habe, habt ihr einander viel zu erzählen. Das ist schön, aber wenn ihr alle so durcheinander sprecht, kann ich euch gar nicht alle verstehen. Wie wäre es denn, wenn ihr euer schönstes Ferienerlebnis im Morgenkreis vorstellt? Einer nach dem anderen?“ schlägt Frau V. vor, als die das Klassenzimmer betritt. Gesagt, getan. Während einige Schüler*innen die Tische beiseiteschieben und den Stuhlkreis aufbauen, holt Maria ihre Mappe mit den Piktogrammen hervor. Sie weiß ganz genau, nach welchem Symbolbild sie suchen muss und blättert hastig durch die Seiten. Als sie das passende Piktogramm entdeckt hat, klettet sie dieses ab, setzt sich auf ihren Stuhl und wartet ungeduldig, bis es losgeht. „Das hat ja schnell geklappt, wer möchte anfangen, zu erzählen?“ fragt Frau V., als alle Schüler*innen auf ihren Plätzen sitzen und sie erwartungsvoll ansehen. „Ich, ich, ich möchte anfangen!“ ertönt es von allen Seiten. „Na, na, na, habt ihr über die Ferien alles vergessen? Wer etwas zu sagen hat, meldet sich leise und bekommt dann den Erzählstein von mir. Am schnellsten hat sich Maria gemeldet, also macht sie den Anfang, bitteschön, was hast du erlebt?“ fragt Frau V. Maria und überreicht ihr den Erzählstein. Maria hält das auserwählte Piktogramm empor. Es ist eine Zeichnung von einem Zoo zu sehen. Zusätzlich zu der Zeichnung macht Maria noch ihre Geste für „essen“ und lächelt in die Runde. „Warst du im Zoo, Maria?“ fragt eine Mitschülerin. „Nein, nein!“ antwortet Maria und macht wieder die Geste für „essen“. „Wenn du nicht im Zoo warst, wo warst du denn dann?“ hakt ein Mitschüler ein. Maria überlegt kurz und hat eine Idee. Sie holt die Mappe mit den Piktogrammen hervor und blättert eifrig. Als sie gefunden hat, wonach sie sucht, hält sie eine weitere Zeichnung empor. Auf der Zeichnung sind ein Weihnachtsmannschlitten, Rentiere und Geschenke zu sehen. Überzeugt zeigt Maria auf die Rentiere und hält dann wieder die Zeichnung vom Zoo in die Höhe. „Hä? Aber Weihnachten ist doch erst in drei Monaten, was hat der Zoo denn mit Weihnachten zu tun?! Hast du vielleicht das falsche Bild gegriffen?“ fragt ein Mitschüler verwirrt. „Vielleicht war sie ja am Nordpol im Zoo?!“ rätselt eine weitere Mitschülerin und zuckt mit den Schultern. „Nein, nein!“ ruft Maria und stampft mit dem Fuß auf den Boden. Wieder zeigt sie die Geste für Essen und deutet auf das Bild mit dem Schlitten und den Rentieren. „Hmmm…, kann es sein, dass du in den Ferien einen Elch gegessen hast?“ rätselt Marias Sitznachbar. „Nein!“ ruft Maria verzweifelt und wirft ihre Mappe mit den Piktogrammen auf den Fußboden. „Weißt du was, Maria? Ich schreibe gleich eine Notiz an deine Eltern in dein Mitteilungsheft und frage nach, was du in den Ferien besonderes erlebt hast, okay? Dann kann ich morgen die Antwort vor der Klasse vorlesen.“ Schlägt Frau V. vor. „Ja.“, sagt Maria leise und hebt die Mappe auf.
Zu Situationen wie diesen, in denen Maria von ihrem Umfeld nicht verstanden wird, kommt es immer wieder. Das Gefühl nicht verstanden zu werden, obwohl sie es akribisch versucht, kann schnell zu einem Kommunikationskonflikt und in Folge dessen zu Frustrationen führen. Das ist bei Maria häufig zu beobachten. Sie möchte verstanden werden. Sie möchte Fragen stellen, Probleme ansprechen oder einfach nur etwas erzählen, das ihr wichtig ist. Die Diskrepanz zwischen ihrem Alltags- und Sprachverständnis und den ihr zur Verfügung stehenden Ausdrucksmöglichkeiten führen nicht selten zu Missverständnissen und das ärgert sie. Wenn Maria sich nicht mehr anders zu helfen weiß, kann die Enttäuschung auch zu aggressivem Verhalten führen.
Maria und ihre Gesprächspartner:innen benötigen ein Kommunikationssystem, welches vielfältige Kommunikationsinhalte von Maria mit vielen Wörtern und Sätzen beinhaltet. Damit kann sie insbesondere Gedanken und Gefühle äußern, die sich nicht einfach aus der Situation ergeben. So ist sie unabhängiger von der Kreativität ihrer Kommunikations-partner:innen und deren Frageformulierungen. Um Maria die Frustrationserlebnisse zu ersparen und dafür zu sorgen, dass sie situationsunabhängig von allen in ihrem Umfeld verstanden werden kann, vereinbarte Klassenlehrerin Frau V. zusammen mit Marias Eltern einen Termin in der Beratungsstelle für Unterstützte Kommunikation bei der Beratungslehrerin Frau G.
Beratung und TASP
Im Mittelpunkt der ersten Beratung stand die Frage nach Unterstützungen von Marias aktiven Kommunikationsmöglichkeiten. Perspektivisch standen auch die Erprobung von Kommunikationshilfen und eine Versorgung mit diesen auf dem Plan. Den Anfang machte Frau G. mit der Überprüfung von Marias Sprachverständnis. Es sollten Anknüpfungspunkte zur Stärkung und Förderung ihrer bereits vorhandenen Kommunikationsfähigkeiten aufgezeigt werden. Um Raum für Anknüpfungspunkte zu schaffen und zu überprüfen, wie ausgeprägt Marias Sprach- und Symbolverständnis ist, führte Frau G. einen sog. TASP-Diagnostiktest mit ihr durch.
Der TASP-Test ist ein Diagnostiktest des Sprach- und Symbolverständnisses von Menschen ohne Lautsprache. Ziel des TASP ist es, bei der Suche nach einer passenden Kommunikationshilfe (einfach oder komplex) eine individuelle Lösung zu finden. Mit Hilfe des TASP-Diagnostiktests kann ermittelt werden, welche Symbolgröße und welche Symbolanzahl für die individuelle Person gut geeignet ist. Außerdem wird geprüft, welches Kategorien- und Grammatikverständnis vorliegt. Der Aufbau des TASP ist an die individuelle Entwicklung des getesteten Kindes angepasst und besteht aus mehreren, aufeinander aufbauenden Schwierigkeitsstufen. Der zu testenden Person wird eine Auswahl an Symbolen gezeigt und diese kann dann durch Zeigen (mit den Fingern, Händen oder Gegenständen/Hilfsmitteln) das (für sie) passende Symbol auswählen.
Marias TASP-Diagnostiktest Ergebnisse
Während der Durchführung des TASP zeigte Maria sich sehr motiviert und wählte eifrig zeigend die für sie passenden Symbole aus. Im Beratungs- und Erprobungsbericht beschreibt Frau G. das Testergebnis folgendermaßen:
„Hier zeigte Maria, dass sie das neue Symbolsystem sehr gut und schnell erfasst hat. Sie hat 100% im Verstehen von Objekten bei einer Symboltafel mit 66 Symbolen und 83% mit 128 Symbolen erreicht. Außerdem hat sie sich zu 83% die Lage der Symbole eingeprägt, was für den Einsatz einer dynamisch aufgebauten Kommunikationshilfe spricht. Der Wortschatz ist sicher zu 100% in semantischen Kategorien abgespeichert und wird zu 63% bereits in grammatischen Kategorien abgerufen. Besonders bemerkenswert ist, dass mit steigenden Anforderungen im Untertest neben Syntaxverständnis/Anwendung Satzbau auch der Umfang der gezeigten Wörter/Symbole gestiegen ist. Hier konnte Maria zuverlässig reproduktiv und produktiv 2-/3-Wortsätze und auch 4-Wortsätze bilden und so Fragen beantworten und Fotos beschreiben.“[1]
Besonders Marias Mutter überraschte und berührte das Testergebnis sehr, denn es zeigt, dass Maria ein viel größeres Spach- und Symbolverständnis hat, als bis dahin angenommen wurde. So zeigt sich klar, dass die Diskrepanz zwischen Marias großem Sprachverstehen und den ihr zur Verfügung stehenden Ausdrucksmöglichkeiten viel zu groß ist. Um Maria die Möglichkeit zu geben, ihrem Sprachverständnis und dem daraus resultierenden großen Kommunikationsbedürfnis gemäß kommunizieren zu können, wurden im nächsten Schritt die Erprobungen einer einfachen und einer komplexen elektronischen Kommunikationshilfe mit Sprachausgabe beschlossen.
Die einfache elektronische Kommunikationshilfe
Um den generellen Umgang mit einer elektronischen Kommunikationshilfe zu üben[2] und Maria an diese neue Form der Kommunikationsmöglichkeiten heranzuführen, wählte Frau G. zunächst eine einfache Kommunikationshilfe mit Sprachausgabe für die erste Erprobung aus.
Durch den Einsatz einer einfachen Kommunikationshilfe mit Sprachausgabe kann Maria bis zu 50 Vokabeln nutzen. Diese sind meist einem bestimmten Thema zugeordnet und die Themenblätter können beliebig am Gerät direkt ausgewechselt werden. Zu einem bestimmten Thema können also bis zu 50 Vokabeln im Vorfeld auf das Gerät gesprochen und dann mit eigens dafür angefertigten Symbolpapieren verbildlicht werden. Die einzelnen Symbole gelten dann als Tasten. Für kurze Anweisungen und wiederkehrende Fragen kann diese einfache Kommunikationshilfe problemlos genutzt werden. Die Beliebigkeit der Themen und Vokabeln machen die einfache Kommunikationshilfe mit Sprachausgabe zu einem praktischen Helfer für thematisch eingegrenzte und wiederkehrende Kommunikationssituationen in der Schule und im häuslichen Alltag. Im Vorfeld haben Maria sowie ihre Eltern und Bezugslehrer:innen eine Einweisung in die Funktionsweisen und Bedienung der Geräte bekommen. Marias alltägliches Umfeld kann sie so gut im Umgang mit der Kommunikationshilfe unterstützen. Das zeigen folgende Beispiele:
In der Erprobung zeigte sich Marias sehr komplexes Sprachverständnis. Deswegen war eine einfache Kommunikationshilfe nicht ausreichend für ihre kommunikativen Bestrebungen. Zwar kann sie hiermit in bestimmten Bereichen einzelne Aussagen tätigen, jedoch sind es lediglich jene Vokabeln, die ihr im Vorfeld auf das Kommunikationsgerät gesprochen wurden. Das Formulieren eigener Fragen und Aussagen ist ihr nicht möglich. Ihre Teilhabe in z.B. thematisch spezifischen Unterrichtssituationen kann mit Hilfe einer einfachen Kommunikationshilfe mit Sprachausgabe zwar unterstützt werden, indem im Vorfeld passende Vokabeln oder Aussagen ausgewählt werden, jedoch reicht diese Art der Kommunikationshilfe nicht aus, um Maria ein freies Erzählen zu ermöglichen. Damit Maria ihren Fähigkeiten entsprechend kommunizieren kann, wurde im nächsten Schritt die Nutzung eines komplexen Kommunikationsgeräts mit Sprachausgabe erprobt.
Die komplexe Kommunikationshilfe mit Sprachausgabe
„In der Erprobung konnte Maria mit den Kommunikationshilfen über Vorlieben und Gedanken erzählen, die sie ohne Sprachausgabegerät nicht ansprechen konnte/kann. Sie war in der Lage spontan und frei zu kommunizieren. Besonders beeindruckend war, dass sie innerhalb kürzester Zeit mit ihren Mitschüler*innen ins Gespräch kam.“[3]
Dieses Gerät hat Speicherplatz für bis zu 1000 Aussagen und eine dynamische Oberfläche mit Symbolbildern, die in Kategorie-Systemen geordnet sind. Mit Hilfe der komplexen Kommunikationshilfe ist es Maria möglich, situativ ungebundene Aussagen zu treffen oder konkrete Fragen zu stellen. Es gibt sogar die Option einer komplexen Grammatik und Maria kann per Tastendruck vom vergangenen Wochenende erzählen oder Pläne für die Zukunft machen. Durch die Erprobung und den Einsatz einer solch komplexen Kommunikationshilfe hat Maria die kommunikative Freiheit und Spontanität, die auch andere Kinder ihres Alters haben und ist nicht mehr auf das Verständnis und die Interpretationsfähigkeiten ihres Gegenübers angewiesen. Das kann ein Beispiel aus einer Unterrichtsstunde verdeutlichen:
„So, meine Lieben, nachdem wir uns die letzte Woche mit typischen Merkmalen von Märchen beschäftigt haben, ist es heute an der Zeit, dass wir unsere eigenen Märchen schreiben. Was haltet ihr davon?“ schlägt Frau V. ihrer Klasse in der ersten Deutschstunde nach dem Wochenende vor. „Jaaaaa, cool!“ ertönt es im Kanon. „Und wenn ihr fertig seid, darf jeder der mag sein Märchen vor der Klasse vortragen, wie wäre es damit?“ Die Schüler:innen beginnen eifrig ihre Materialien wie Schreibhefte und Stifte aus ihren Fächern zu holen. Auch Maria läuft zu ihrem Fach und holt ihre elektronische Kommunikationshilfe mit Sprachausgabe hervor. „Bevor ihr jetzt alle im Schreibfluss seid, möchte ich noch den Anfang eines typischen Märchens abfragen. Wer weiß noch, wie Märchen meistens beginnen?“ fragt Frau V. ins Gewusel. „Es war einmal, vor langer, langer Zeit…“ ertönt die Antwort aus der Klasse. „Genau. Diesen Anfang übernehmt ihr bitte auch für eure eigenen Märchen. Ich würde vorschlagen, dass wir uns nach der kurzen Pause im Stuhlkreis einfinden und mit dem Vortragen beginnen. Los geht’s, viel Spaß!“ Maria ist ganz aufgeregt. Wunderwelten und besondere Fantasiewesen erfindet sie auch beim Kneten sehr gerne und nun hat sie auch noch die Gelegenheit, den anderen davon zu erzählen. Sie schaltet ihr Kommunikationsgerät ein und beginnt im Kategoriensystem die Symbole, die sie für ihre Geschichte braucht auszuwählen. „Brauchst du Hilfe, Maria?“ fragt Frau V., die plötzlich neben ihr steht. „Ne.“ Antwortet Maria, schüttelt den Kopf und ist schon wieder eifrig mit ihrer Kommunikationshilfe beschäftigt. Sie tippt selbstsicher und das Sprachfeld füllt sich mit immer mehr Wortsymbolen. Auch als die Pausenglocke läutet, ist Maria noch tief in ihrem eigenen Märchen versunken und bekommt kaum mit, was um sie herum passiert. Zufrieden schaut sie auf. Sie ist fertig. Ihre Klassenkamerad:innen beginnen schon damit, den Stuhlkreis aufzubauen und Maria hilft ihnen freudig. „Okay, jetzt bin ich aber gespannt! Wer möchte anfangen mit dem Erzählen?“ fragt Frau V. in die Runde. Marias Arm schnellt blitzschnell nach oben. „Maria war definitiv die Schnellste. Dann freuen wir uns jetzt auf dein eigenes Märchen.“ Maria drückt auf die Sprachausgabetaste ihres Kommunikationsgerätes und dieses liest ihr Märchen laut und deutlich vor. „Es war einmal, vor langer Zeit ein Land aus bunter Knete. Die Bäume waren blau und lila und das Meer war gelb. Im Land lebt Prinzessin Maria mit ihren Freunden. Die Freunde und Maria fliegen auf Drachen in den Himmel. Am Himmel ist ein bunter Regenbogen aus Bonbons.“ Als Maria Frau V. fragend ansah, lächelte diese sie breit an. „Das ist ein tolles Märchen, Maria! Vielen Dank. In diesem Land würde ich auch gerne leben und mit Prinzessin Maria und ihren Freunden durch die Luft fliegen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“
Es ist Maria nun möglich, ganz situationsunabhängig und frei zu erzählen und ihre Geschichten mit anderen zu teilen. Sie kann spontan an Gesprächen teilnehmen und ist aufgrund der Fülle an Vokabeln und Ausdrucksmöglichkeiten des komplexen Kommunikationsgerätes nicht mehr auf bestimmte Themenbereiche beschränkt. Auch in spontanen oder gänzlich neuen Kommunikationssituationen kann sie nun partizipieren wie alle anderen auch. Das kann das folgende Beispiel eines Pausenspiels zeigen:
Immer, wenn es draußen regnet, darf Marias Klasse während der Hofpause im Klassenzimmer bleiben. Dann spielt die ganze Klasse zusammen mit der Pausenaufsicht Spiele oder malt Bilder. Heute ist wieder so ein regnerischer Tag. Die Pausenaufsicht schlägt vor, dass sie alle „Ich sehe was, was du nicht siehst“ spielen könnten. „Au ja!“ denkt sich Maria. In diesem Spiel ist sie besonders gut, denn sie hat ein Auge für Details und ist sehr ausdauernd im Raten. „Ich sehe was, was ihr nicht seht und das ist…weiß.“ sagt die Pausenaufsicht geheimnisvoll und beginnt damit das Spiel. Die Schüler:innen schauen im Raum umher. „Weiß…weiß…hm, vielleicht die Decke?!“ rät ein Schüler. „Nein, weiter geht’s.“ erwidert die Pausenaufsicht mit einem schelmischen Grinsen. Maria hat eine Idee und sucht die passenden Symbole dafür auf ihrer Kommunikationshilfe. „Deine Turnschuhe“ ertönt die Sprachausgabe von Marias Kommunikationshilfe. „Nein, auch die nicht.“ antwortet die Pausenaufsicht freudig. „Das ist aber ganz schön knifflig.“, schaltet sich eine von Marias Mitschülerinnen ein. Maria lässt ihren Blick durch den Raum streifen und bleibt an der Heizung hängen. „Ahh! Ja!“ ruft sie und zeigt auf die Heizung. „Hast du noch eine Idee?“ fragt die Pausenaufsicht Maria und folgt ihrer Zeigegeste mit den Augen. „Ja.“ antwortet Maria rasch und sucht nach der passenden Antwort. „Die Heizung ist weiß.“, gibt Maria mit Hilfe der Kommunikationshilfe preis. „Richtig! Sehr gut, das war wohl zu einfach. Jetzt bist du dran, Maria.“, reagiert die Pausenhilfe freudig auf Marias Antwort, während diese schon auf der Suche nach einem geeigneten Gegenstand ist.
Ausblick
Durch die Erprobung der komplexen Kommunikationshilfe mit Sprachausgabe konnte Maria unter Beweis stellen, dass sie gezielte und differenzierte Aussagen treffen kann, wenn ihr die nötigen Hilfsmittel dafür zur Verfügung stehen. Durch das Kommunizieren mit der komplexen Kommunikationshilfe hat Maria im Alltag eine viel höhere Möglichkeit zur Teilhabe. Sie ist nicht mehr auf Äußerungen ihrer Grundbedürfnisse beschränkt, sondern kann Fragen stellen, Erzählen oder einfach ihre Meinung äußern. Der soziale und kommunikative Austausch durch das Spiel sowie das Gespräch mit Gleichaltrigen ist durch die komplexe Kommunikationshilfe für alle Kommunikationspartner:innen und Maria selbst leichter zugänglich. Zudem kann die Kommunikation durch eine komplexe elektronische Hilfe Maria dabei unterstützen, einen altersgemäßen aktiven Grundwortschatz mit Grammatikstrukturen aufzubauen. Aus diesem Grund wurde für Maria eine komplexe Kommunikationshilfe mit Sprachausgabe bei der Krankenkasse beantragt. Mit dieser versorgt, können Marias kommunikative Bestrebungen umfassend unterstützt werden. Dafür ist eine weitere Begleitung durch Frau G. in der Beratungsstelle für Unterstützte Kommunikation vorgesehen.